Nach – Gedacht: Der Mensch als „Störgröße”
Kommentar von Jürgen Kriz
aus: Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 4/2017, S. 220
Macht es einen Unterschied, ob man zwei Maschinen, die Blechknöpfe ausstanzen, hinsichtlich ihres Ausschusses untersucht, ob man zwei Medikamente hinsichtlich ihrer Wirkung vergleicht oder ob man zwei Psychotherapieansätze auf ihre Wirksamkeit hin überprüft?
Diese Frage könnte man mit „ja“ beantworten — allerdings aus unterschiedlichen Gründen. So könnte man anführen, dass die Untersuchungsbereiche von Maschine über Wirkstoffe bis hin zu Psychotherapie zunehmend komplexer werden. Dies würde eine grundlegend andere Prüfmethodik erfordern, die beispielsweise die Erkenntnisse über Rückkopplungen und nichtlineare Entwicklungen berücksichtigt. Doch dies berührt den Mainstream wenig. Stattdessen wird das Modell des Ausstanzens von Blechknöpfen zum Ideal erhoben, demgegenüber die Prüfung von Wirkstoffen am Menschen „Verzerrungspotenzial“ hat, weil Untersucher und Patienten von ihren Vorannahmen, Interessen o. ä. beeinflusst sein könnten. Um diese „Störgrößen“ hinreichend auszuschalten, ist man auf die Idee gekommen, eine „doppelte Verblindung“ zu fordern: Weder Patient noch Untersucher wissen, wer welches Medikament (oder ein Placebo) bekommt.
Noch größer ist dann das „Verzerrungspotenzial“ in der Psychotherapieforschung, weil es den „objektiven“ Wirkstoff dort gar nicht gibt, sondern Therapeut und Patient denkende Menschen sind. Wer nun aber meint, auf die Idee mit der „doppelten Verblindung“ könne ernsthaft niemand kommen, sollte sich den Bericht des IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) zur systemischen Therapie ansehen. Das IQWiG wurde vom G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss) beauftragt, die „Bewertung der systemischen Therapie bei Erwachsenen“ durchzuführen. In dem 860-seitigen Abschlussbericht wurde bei den Therapiestudien durchgängig die fehlende Verblindung als Manko gewertet. Auf die Kritik daran durch die Antragsteller schreibt das IQWiG:
„Das Institut teilt die Einschätzung der Stellungnehmenden, dass eine Verblindung der Therapeuten wie auch der Patienten im Bereich von Psychotherapiestudien regelhaft nicht möglich ist. Jedoch kann eine fehlende Verblindung das Verzerrungspotenzial beeinflussen, ungeachtet dessen, ob es möglich ist, eine Studie verblindet durchzuführen. Der Aspekt der Verblindung muss also berücksichtigt werden.“ (S. 523).
Was sind nun diese „Störgrößen“ die man für eine saubere, „verzerrungsfreie“ Forschung nach diesem Modell möglichst eliminieren will? Auf den Punkt gebracht könnte man sagen: All jene Einflüsse, die im Wesentlichen den Kern von Psychotherapie ausmachen, allen voran die therapeutische Beziehung. Denn diese und weitere sogenannte „unspezifische Faktoren“ machen den allergrößten Teil des Erfolges einer Psychotherapie aus, wie praktisch die gesamte Forschung international in den letzten Jahrzehnten immer wieder gezeigt hat. Während das, was in den RCT-Studien als spezifische Wirkung geprüft wird, einen vergleichsweise sehr kleinen Anteil ausmacht. Dieses ist zwar, je nach therapeutischem Ansatz, unterschiedlich hoch. Allerdings ist sonst noch niemand auf die Idee gekommen, doppelte Verblindung hier als Qualitätsmerkmal anzusehen. Soll man dem IQWiG zugutehalten, dass es bisher nur Medizinprodukte untersucht hat, Psychotherapie ein Neuland ist und der Unterschied selbst in Psychotherapiekreisen nicht immer gesehen wird?
Das ganze Prozedere ist vergleichbar mit der Untersuchung des Nutzens von Fallschirmen durch ein dafür zuständiges Gremium, das sich dadurch auszeichnet, dass es gewöhnlich sehr sorgfältig „fallende Körper“ wie Kugeln, Steine etc. untersucht. Bekanntlich gib es auch bei Fall-Experimenten etliche „Störgrößen“ — besonders den Einfluss der Luft — weshalb man solche Untersuchungen in möglichst weitgehend luftleer gepumpten Zylindern durchführt. Wenn man nun mit dieser Logik und diesem Argument an die Überprüfung der Wirksamkeit von Fallschirmen herangeht, wird man unschwer finden, dass sich keine Bremswirkung nachweisen lässt: Das, worauf es ankommt, wurde eben als „Störgröße“ eliminiert, um das „Verzerrungspotenzial“ gering zu halten. Dass man damit allerdings viel gravierendere kontextuelle und semantische Verzerrungen in Kauf nimmt, wird offensichtlich nicht reflektiert.
Ein Gremium, das so verfahren würde, wäre allerdings vermutlich auch gegenüber dem Argument immun, dass viele Jahrzehnte sehr erfolgreich Menschen mit Fallschirmen aus Flugzeugen und dergleichen gesprungen sind. Ja, dass damit sogar viele Leben gerettet wurden. Denn als „Gegenargument“ könnte angeführt werden, dass es keine Kontrollgruppe gibt — also eine größere Gruppe Menschen, die ohne Fallschirm aus dem Flugzeug gesprungen sind. Kontrollgruppen sind nun aber mal für sorgfältige wissenschaftliche Wirkstudien unumgänglich.
Das Ideal Blechknöpfe stanzender Maschinen oder doppelverblindeter Pharmaforschung kann Psychotherapie aufgrund der Störgröße „Mensch“ nicht erreichen. Macht es Sinn, sich an einem Spiel nach solchen Regeln weiter zu beteiligen?